Den Antisemiten ein Schnippchen schlagen - "das muss begossen werden", sagt der Schriftsteller und Journalist Hannes Stein, der beobachtet, dass es dort, wo viele Juden leben weniger Alkoholiker gibt: "In einem jüdischen Haushalt überlebt eine Flasche Wein mehrere Wochen", sagt der Autor, der mit Familie in New York lebt. Er trinkt Single Malt Whisky an Purim.
Andreas Main: Hannes Stein, Purim ist ein besonderes Fest im Judentum, ein Fest, an dem auch Alkohol getrunken wird und schon einmal ein Glas zu viel. Was wird da gefeiert?
Hannes Stein: Es geht um eine Rettung der Juden vor einem Pogrom. Es geht um das Buch Ester. Das findet man auch in der christlichen Bibel; und das Buch Ester ist aus verschiedenen Gründen sehr interessant: Erstens ist es eine Diaspora-Geschichte. Also, sie spielt nicht im Land Israel, sondern sie spielt im persischen Großreich. Dann ist es, wenn ich mich nicht täusche, das erste Mal in der Bibel dass die Juden Juden genannt werden, also Yehudim und nicht Kinder Israels. Die Diaspora-Bezeichnung der Juden wird dort sozusagen das erste Mal genannt. Und das Dritte was daran interessant ist, dass das ganze ohne göttliche Intervention auskommt. Also, die Juden retten sich selber und zwar mithilfe von a) einer List, wenn man so will und b) indem sie selber um ihr Leben kämpfen. Und die Geschichte ist ganz einfach so, dass der König des persischen Großreichs - ohne es zu wissen - eine jüdische Frau hat, nämlich Ester, die verheimlicht, dass sie Jüdin ist.
Und als sein böser Minister Haman, der sauer ist, weil der Onkel von Ester, Mordechai, sich nicht vor ihm verbeugt hat. Also, als Haman deswegen beschließt, nicht nur Mordechai umzubringen, sondern alle Juden im persischen Großreich, da gelingt es Ester - weil sie zum Glück eben an der richtigen Stelle sitzt - den König dazu zu kriegen, dass er den Juden das Recht gibt, sich gegen ihre Feinde zu wehren: Und es ist außerdem noch so, dass Mordechai geehrt wird, während Haman, der schon einen Galgen hat bauen lassen, an dem Mordechai aufgehängt werden soll, an genau diesem Galgen aufgehängt wird. Also Haman - seine zehn Söhne übrigens werden auch noch an diesem Galgen aufgehängt - und die Juden dürfen sich gegen ein Pogrom wehren.
Religion und Alkohol
Main: Das ist jetzt eher eine ernsthafte, brutale Geschichte. Wieso ist das ein Grund, dass Juden bei diesem Fest tiefer ins Glas schauen?
Stein: Also, ich glaub, dass sie damals, als die Geschichte geschrieben wurde, einen Humor hatte, der sich uns heute nicht mehr mitteilt. Aber ich glaube, dass damals Leute wirklich über diese Geschichte gelacht haben und dass sie wirklich komisch war. Aber davon abgesehen, wenn man aus höchster Not gerettet wird, dann ist das doch schon mal ein Grund einen über den Durst zu trinken. Übrigens sind die Rabbiner sehr genau: Sie sagen, man soll so lange saufen, bis man nicht mehr unterscheiden kann zwischen "Gesegnet sei Mordechai" und "Verflucht sei Haman". Wolf Biermann hat mal ein Trinklied geschrieben - es gibt ja nicht viele Trinklieder von Wolf Biermann - aber es gibt ein Trinklied von ihm und da gibt es eine Strophe genau darüber. Das geht so: "Es trinken die Juden aus Tradition, ein bisschen zu wenig, ich weiß auch warum." Da weiß Wolf Biermann übrigens mehr als ich. Ich weiß nicht warum Juden so wenig trinken.
Und das Interessante ist eben, dass Juden, im Unterschied zu anderen Völkern, also zum Beispiel die Finnen, die Finnen haben, wie jeder weiß, eine ordentliche Tradition zum Alkoholismus. Also in Finnland ist es überhaupt nicht peinlich übrigens, auch wenn man besoffen rumläuft. Und das ist bei Juden wirklich ganz anders. Im Unterschied zu Wolf Biermann weiß ich nicht warum, aber es ist so, dass Juden eben übertrieben wenig trinken eigentlich.
Schnuller in Rotwein getunkt
Main: Versuchen Sie doch trotzdem ein paar Erklärungsansätze, entweder theologische oder naturwissenschaftliche oder soziologische.
Stein: Also es gibt eine psychoanalytische Erklärung, die geht so: Bei der Beschneidung - jüdische Jungs werden ja am achten Tag nach der Geburt beschnitten - gibt man dem Säugling einen Tropfen Alkohol, um ihn ein bisschen zu betäuben danach. Das war übrigens bei meinem Sohn auch so, der kriegte einen Schnuller, der in Rotwein getunkt wurde. Und die psychoanalytische Erklärung ist also, dass jüdische Jungs danach den Geschmack von Alkohol mit der Erinnerung an ein höchst schmerzhaftes Erlebnis verbinden und dass sie deswegen lieber nichts trinken. Also, das ist die psychoanalytische Erklärung.
Dann gibt es noch eine biologistische Erklärung. Es gibt so Forschungen, dass aschkenasischen Juden, genau wie übrigens Asiaten, ein Enzym fehlt, um Alkohol zu zerlegen, was anders gesagt dazu führt, dass man weniger Alkohol braucht, um einen Juden besoffen zu machen. Also, so wie auch Asiaten eben schneller besoffen werden. Aber ich weiß nicht, ob das stimmt.
Und die theologische Erklärung find ich eigentlich die schönste. Also in der Thora - also in den fünf Büchern Moses - da gibt es so eine lange Fluchformel, was den Juden alles passieren wird, wenn sie sich nicht an die Mitzwot - also die 613 Gesetze, die Gott ihnen befohlen hat, - halten. Und das ist eine ganz furchtbare Liste, "und es werden ihnen schreckliche Dinge widerfahren", man mag es gar nicht wiedergeben. Und darunter findet sich dann auch dieser Satz "Ihr werdet unter fremden Weinstöcken sitzen aber ihr werdet den Wein nicht trinken". Und dann sagt ein Rabbiner in einem Kommentar: 'Na da sieht man, wie gnädig Gott ist. Sogar in seinem Fluch ist ein Segen verborgen, denn aus diesem Grund trinken die Juden weniger als die Gojim.
Wo viele Juden leben, gibt es weniger Alkoholiker
Main: Wie sieht es denn in der Praxis aus? Wieviel Prozent jüdischer Menschen in ihrem Umfeld trinken keinen oder fast keinen Alkohol?
Stein: Es ist wirklich so, dass eine Flasche Wein in einem jüdischen Haushalt sehr lange hält. Es ist auch statistisch so, jedenfalls hier in Amerika weiß ich es, dass in dem Moment, in dem man einen hohen Prozentsatz hat an Juden, der Prozentsatz an Alkoholikern runter geht. Das heißt, bei uns in New York, wo ein Fünftel der Einwohner Juden sind, es sofort weniger Alkoholiker gibt. Um es ganz ernst zu sagen: Ich glaube es ist einfach nicht Teil der jüdischen Kultur. Jüdische Kultur ist, dass man sich bildet oder was liest und dass man es irgendwie zu was bringt im Leben. Also Alkohol ist einfach nicht Teil dessen, womit man sich gut fühlt.
Main: In Israel ist es ja auch spürbar. Die Probleme, die wir in Deutschland mit Alkohol im öffentlichen Raum haben, die gibt es dort nicht. Aber sehen Sie womöglich auch eine Schattenseite dieser Abstinenz in der jüdischen Welt?
Stein: Eigentlich nicht. Was soll die Schattenseite sein?
Main: Richtung Puritanismus...
Stein: Ach so, nein puritanisch sind Juden nun auch wieder überhaupt nicht. Das Verhältnis zum Sex ist im Judentum ja völlig unverklemmt.
Purim ist für Juden das, was für Christen der Karneval ist
Main: Neben Alkohol ist während des jüdischen Purimfestes noch etwas essentiell: Krach und Kostüme. Könnte man sagen: Purim ist für Juden quasi das, was für Menschen in christlich geprägten Regionen der Karneval oder der Fasching ist?
Stein: Ja genau, es ist der Karneval. Also das Grundprinzip des Karnevals ist ja das Umdrehen, also dass alles anders ist als im normalen Leben. Und Purim ist eben genauso. Also das nüchterne Volk säuft, der Pogrom findet nicht statt, und stattdessen kriegen die Juden endlich mal die Gelegenheit, einen kleinen Pogrom an den Antisemiten auszuführen, was auch wirklich nötig war. Ja, und man verkleidet sich. Man ist eben auch seiner Kleidung nach ein anderer als im Alltag. Also es gibt richtige Purim-Umzüge - also da, wo es viele Juden gibt und da wo Juden sich das trauen können, auf die Straße zu gehen und zu Purim einen Umzug zu machen. Also hier in New York gibt es das, in Israel sowieso. Aber ich weiß auch, es gibt das in Strasbourg, da kann man richtig Purim auf der Straße sehen.
"Die lustige Art, mit einem Trauma umzugehen"
Main: Purim ist kein ernstes Fest. Vielleicht doch noch eine ernste Frage. Wie hat sich Purim über die Jahrhunderte verändert? Können Sie uns dazu etwas sagen?
Stein: Ich weiß gar nicht, ob es sich so sehr verändert hat. Aber was ich ernsthaft sagen kann: Es gibt zwei von den Rabbinern eingesetzte Feste. Also die stehen nicht so in der Bibel, sondern die Rabbiner haben festgesetzt, dass wir die feiern. Das eine ist Purim und das andere ist Hanukkah. Und beide feste haben zu tun mit der Vernichtung der Juden.
Purim hat mit der physischen, der körperlichen Vernichtung der Juden zu tun. Also Haman sagt, wir wollen alle Juden im persischen Großreich - Männer, Frauen und Kinder - vernichten, umbringen. Es gibt eine ganze Kategorie von Verben, die dann folgt. Die alle heißen: Umbringen und Ermorden.
Das andere Fest Hanukkah handelt von der geistigen Vernichtung der Juden, weil es dort nämlich darum geht, dass den Juden verboten werden soll, ihre Religion zu feiern.
Und diese beiden Feste beschreiben also zwei Formen des Antisemitismus, die Juden in ihrer Geschichte immer wieder erfahren haben. Ganz früh schon findet man bei Juden eine Reaktion auf diese beiden Formen des Antisemitismus, mit dem sie in ihrer Geschichte immer wieder konfrontiert wurden und zwar bis in die jüngste Vergangenheit hinein. Im Grunde ist Purim eine lustige Art, mit einem Trauma umzugehen.
Main: Wir haben mit dem vermaledeiten Alkohol angefangen, der einen meschugge macht, wir hören mit ihm auf: Wie viel Alkohol haben sie dieses Jahr vor Purim gekauft?
Stein: Ich muss keinen kaufen, denn ich habe zum Glück eine irische Freundin, die mich regelmäßig mit dem wunderbarsten Single Malt Whisky versorgt. Und mit allem anderen, was ich ihr auftrage; denn sie hat einen sehr schönen Weinladen bei sich in der Nähe. Das heißt ich habe den ganzen Keller voll mit Single Malt Whiskys, der ja auch weg muss - Single Malt Whisky ist ja im Grunde destilliertes Bier - und das heißt das ist nicht koscher für Pessach. Und das nächste Fest was wir nach Purim haben ist Pessach. Das heißt, ich muss vor Pessach so viel von diesem Single Malt Whisky trinken, wie ich nur irgendwie kann.
Main: Da bleibt mir nur noch eines zu sagen: "LeChaim!", im Übrigen ein wunderschöner hebräischer Trinkspruch, der übersetzt heißt?
Stein: Auf das Leben!
Main: LeChaim! Das wünsche ich allen Zuhörern und Ihnen Hannes Stein in New York. Ein schönes Purimfest, alles Gute und Danke für Ihre Eindrücke.
Stein: Da nich für, sagen die Hamburger.
Author: Heather Whitaker
Last Updated: 1704209521
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