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Welt: Ein Europa voller Empathie


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    Meine erste Literaturerfahrung hatte ich als kleiner Junge in einer schnöden Imbissstube unseres Wohnviertels, wo wir, mein Vater und ich, allmorgendlich unser Frühstück einnahmen: einen Teller Kuttelsuppe und Limonade. Das Lokal war etwas für Hartgesottene – quadratische Tische, Wachstuch mit Brandlöchern, fettiger Tresen, die Fensterscheiben beschlagen von der dampfenden Suppe, die mit viel Knoblauch und Essig gegessen wurde, man saß und blies und löffelte. Und an der Wand hing ein Schild aus blauem Plexiglas, auf dem stand: „Schriftsteller sind Chirurgen der menschlichen Seele. Alles Faule und Verkommene schneiden sie ab.“ Was zum Teufel wollte dieses Schild uns sagen? Jedes Mal, wenn ich meine Suppe aß, buchstabierte ich es aufs Neue: ein Löffel für die Chirurgen, einer für das Faule, einer für das Verkommene … So bekam die Suppe ihren ganz speziellen Geschmack.

    Man kann sich fragen, wes Geistes Kind auf die Idee gekommen war, das Schild ausgerechnet in diesem Lokal aufzuhängen, wo ich nie einen lebenden Schriftsteller Suppe essen sah. Schriftsteller siedelten in anderen Welten, anderen Kneipen. Hierher kamen die Arbeiter der Frühschicht. Ich war damals sieben oder acht und stellte mir lebhaft, mit aller kindlichen Anteilnahme vor, wie die Schriftsteller in weißen Schürzen, Handschuhen, Masken vorm Gesicht, mit großen Skalpellen in Händen ihre Pflicht taten. Von der Materialität der Seele hatte ich noch kaum einen Begriff; wo zwischen den Eingeweiden sie sich befand und ob es blutete, wenn man hineinstach. Jedenfalls faulte sie offenbar und verkam, sodass man sie ständig beschneiden musste. Instinktiv war ich jedoch auf ihrer Seite, wo immer sie sein mochte, sorgte mich um sie und hasste die Schriftsteller von Herzen.

    Die Inschrift habe ich mein Lebtag nicht vergessen, und sollte ich fünf Dinge nennen, die mich zu dem brachten, was ich heute tue, so müsste ich außer auf Borges, die Bibel und meine Großmutter auch auf dieses Schild verweisen, denn es bewahrte mich vor der Versuchung, an menschlichen Seelen herumzuschnippeln. Mir scheint, damals habe ich den literarischen Chirurgen in mir ein für allemal gekillt. Mithilfe meiner Großmutter vor allem, die mir Geschichten erzählte, bis ich einschlief (denn ich hatte Angst einzuschlafen), sodass mir frühzeitig klar war, dass Geschichten – Literatur – vor allem Trost spenden. Und die Seele stellte ich mir flauschig vor, ein Kaninchen mit weichen Ohren und warmen Pfoten, das nicht etwa unters Messer, sondern getröstet und gehätschelt gehörte.

    Aber nun mal ohne Umschweife gefragt: Zu was ist das Geschichtenerzählen noch gut, außer um den scheuen Seelenhasen damit zu herzen? (Was schon viel ist, wenn Sie mich fragen.) Man kann damit elementare Dinge tun. Leben retten zum Beispiel.

    Wie das geht, ist leicht erklärt. Solange man erzählt, wird das Ende hinausgeschoben. Man erinnere sich an Schahrasad. Mit jeder erzählten Geschichte war ein Tag Lebenszeit errungen. Und auch in den Geschichten, die sie zum Besten gab, sind sie die gängige Währung, sich vom Tod freizukaufen. Nehmen wir nur die allererste – vom unglücklichen Kaufmann, der mit einem weggeworfenen Dattelkern versehentlich den Sohn des furchtbaren Dschinns erschlägt. Die Rache scheint unausbleiblich, jedoch kommen nun nacheinander drei Scheiche des Wegs, bekunden ihr Mitleid und kaufen dem erbosten Dschinn je ein Drittel vom Leben des Kaufmanns ab – zum Preis von neuen Geschichten. Was durchaus als Handel zu verstehen ist: „O du Krone der Könige der Geister, wenn ich dir erzähle, was mir mit dieser Gazelle widerfahren, und du meine Erzählung noch wunderbarer findest als das, was dir mit dem Kaufmann begegnet, wirst du mir zuliebe ihm ein Drittel seiner Schuld verzeihen?“ Ach, entgegnet der Dschinn, wenn die Geschichten gut genug seien, ihn zu beeindrucken, so sei er mit dem Handel einverstanden. Und also geschieht es. Der Dschinn verschont den Kaufmann, und König Schahriyar, der die Geschichte hört, verschont die Erzählerin, schenkt ihr eine weitere Nacht. Ein Geschenk ergibt das andere, und sowieso macht eine nicht zu Ende erzählte Geschichte den Tyrannen neugierig: Bei Gott, denkt er, ich werde nicht so dumm sein, sie umzubringen, ehe ich nicht erfahren habe, wie es ausgeht. Und dabei ist die Geschichte endlos – so endlos wie ein Labyrinth.

    Ob sich ein Frauenmassenmörder wie Schahriyar durch Geschichten bekehren lässt? Vermögen sie am Ende ein Mitgefühl mit dieser Welt in ihm zu wecken? Falls nicht, machen sie ihn doch süchtig nach immer neuen Wundern, Wechselfällen, nach Liebe und Verrat. Die Welt ist groß, sie hat mehr zu bieten als nur den Fehltritt der geliebten Frau (der, vergessen wir es nicht, der Auslöser des ganzen blutigen Bacchanals in „Tausend und einer Nacht“ gewesen ist). Geschichten sind die Rettung also nicht allein für Schahrasad und all die Opfer nach ihr, sondern ebenso für Schahriyar, sie kurieren seine Seele: Was maulst du hier in einem fort und massakrierst, so sprechen sie zu ihm, und alles nur um einer untreuen Frau willen? Sieh doch, die Welt ist voll staunenswerter Menschen und Begebenheiten, weit aufregender als die Deinen. Lass dir erzählen … Das ist der Reiz, den die Geschichten bieten. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass Schahrasads Geschichten den König die Welt zu lieben lehren, aber am Ende verliebt er sich neu in die, die er tausendundeine Nacht zuvor noch hatte töten wollen.

    Daran will ich hier gemahnen: die Kraft des Schwachen, welcher erzählt. Die Lebensgarantie, die aus der Literatur hervorgeht. Als Kind muss ich das schon begriffen haben, denn ich suchte mir am liebsten solche Bücher zum Lesen aus, in denen die Helden in der Ich-Form erzählten. Da wusste ich, sie würden nicht sterben. Der Satz „Ich starb“ war logisch unaussprechlich. Narro, ergo sum.

    Was kann Erzählen noch bewirken? Es sorgt für das Gedächtnis. Nicht zufällig heißt der Erzähler auf lateinisch memorator. Einer, der sich erinnert und erzählend in Erinnerung bringt. Unter den vielen Arten von Erinnerung ist mir die für das Fragile, Flüchtige, Vergängliche am liebsten. „Er kannte genau die Formen der südlichen Wolken des Sonnenaufgangs vom 30. April 1882“, heißt es bei Jorge Luis Borges in „Das unerbittliche Gedächtnis“. Ich wünschte, das könnte ich auch von mir sagen. Was noch?

    Erzählen kann trösten. Ich denke, dass die Literatur sich dieser etwas vernachlässigten Aufgabe wieder mehr und mehr zuwendet. Vor mehr als zweitausend Jahren sind Tröstungen einmal ein verbreitetes Genre der römischen Literatur gewesen. Liest man beispielsweise die Trostschrift, die Seneca aus dem Exil an seine Mutter Helvia richtete, denkt man unwillkürlich an die eigene Mutter und dass es überfällig wäre, ihr wieder einmal Trost zu spenden. (Ihr Gram hat sich in zwanzig Jahrhunderten nicht wesentlich verändert.)

    „Oft schon, beste Mutter, nahm ich einen Anlauf, Dich zu trösten, oft hielt ich wieder inne. Es zu wagen trieb mich vieles an, zuerst schien es mir, als würde ich alles Widerwärtige von mir werfen, wenn ich deine Tränen, wo nicht völlig unterdrückt, doch wenigstens einstweilen abgewischt hätte …“ So hebt der sehr intime Text des Philosophen an. Der Mutter die Tränen wischen, und alles Widerwärtige weicht von einem. So funktioniert Empathie. Solange du von Menschen umgeben bist, die sich grämen, kann dein Glück nicht vollkommen sein. Ich leide mit dem anderen, komme ihm zu Hilfe und werde dadurch selbst weniger unglücklich sein. Altruismus, der den Egoismus verdrängt.

    Dabei erscheint Senecas Strategie überraschend und gegen alle Logik. „Ich will alles vorbringen und selbst, was schon vernarbt ist, wieder aufreißen“, schreibt er – und fängt systematisch an aufzuzählen, welches Leid und Unbill, welche Verluste die Mutter in der Vergangenheit hat erfahren müssen. Das ist der Weg, den die Literatur wählt, um zu trösten – nicht indem sie verschweigt, was uns bedrückt, sondern indem sie es ausspricht, eine Sprache dafür findet. Und indem sie uns gar noch fremdes Leid anträgt, auf dass die Seele sich schäme, über eine einzige Wunde am eigenen Körper „missmutig“ zu sein, wie Seneca schreibt. Denn, so wage ich zu behaupten, ein übermäßig trauernder Mensch ist zu keinem Mitgefühl fähig. Das von dir verlangt, aus dem Schatten des eigenen Leids zu treten, die Träne im Auge des anderen zu bemerken. Übermäßiges Glück hätte denselben Effekt. Beides macht blind für den anderen.

    Wir danken Seneca und fahren fort. Was vermag Literatur noch? Sie weiß aufseiten der Verlierer zu stehen. Das halte ich für einen Wesenszug europäischer Literatur: dass sie einfache Welterklärungsmuster meidet. Den Mut hat, die Schwachstellen unseres Lebens anzusprechen: Sehnsüchte, Sündenfälle, Schuld und Vergänglichkeit. Eine Literatur, die weiß, dass es zu gewissen Zeiten darauf ankommt, den Schwachen, Erniedrigten und Beleidigten beizustehen. Geschichte wird von den Siegern geschrieben, ich weiß – doch die Verlierer erzählen Geschichten. Und sind dabei der Wahrheit oft näher. Es gibt Literaturen, die es vorziehen, sich mit den Siegern zu befassen, den starken Männern. Die große europäische Literatur erzählt, wo sie am besten ist, vom zweifelnden, besorgten, schuldbeladenen zerbrechlichen Menschen.

    Meine Gewährsleute in Krisenzeiten stehen ein für Unsicherheit und Zweifel, Seelenpein. Sie sind die wahren Krisenexperten. Ihre Namen sind Pessoa, Kafka, Eliot, Borges, um nur einige zu nennen. So langsam kommen wir ja dahinter, dass die Welt nicht bloß in ökonomischen Begriffen zu erklären ist. Geldströme, Märkte, Zins und Kredite, das ist nicht der Stoff, aus dem wir gemacht sind. Wir bestehen aus Zweifeln und Sehnsüchten, lauter unerklärlichen Dingen. Und hier kommt die Literatur ins Spiel, ihre Expertise, wenn wir bei solch einem Begriff bleiben wollen. Früher oder später landen wir bei ihr und suchen Antwort auf unsere Fragen. Sie räumt uns eine Anzahl von Grundrechten ein: das Recht zu zweifeln, das Recht schwach zu sein, das Recht zu scheitern, das Recht, Anteil zu nehmen. Das Recht, ein anderer und anderswo zu sein, wenigstens solange man liest. Das Recht zu trauern, was eine der humansten Zustände ist. Und das Recht auf eine persönliche Geschichte.

    Vor zehn Jahren rief ich mit drei Freunden ein kleines Projekt ins Leben, bei dem wir Geschichten aus sozialistischer Zeit sammeln wollten, etwas, das bis dahin immer noch fehlte. Wir tauften es: „Ich habe den Sozialismus gelebt“. Dazu bauten wir eine Website, weil das am einfachsten und billigsten war. Jedermann war aufgerufen, uns seine persönliche Geschichte aus jener Zeit zu schicken: Vorkommnisse, Episoden aller Art, auch Reflexionen, Empfindungen. (Zum Beispiel schickte uns jemand eine prächtige Erinnerung zum Thema Wie hat es im Sozialismus gerochen?)

    Ich gebe zu, anfangs skeptisch gewesen zu sein. Bei uns in Bulgarien herrscht eine ausgeprägte „Schweigekultur“, die sich in langen Jahren herausgebildet hat, eine Melange aus unterdrückter Spätpatriarchalität und erlebtem Sozialismus. Aus meiner eigenen Kindheit kannte ich das Gebot: Was man zu Hause sagt, ist für fremde Ohren weder geeignet noch gedacht … Tatsächlich waren es zunächst vor allem junge Leute, die uns ihre Geschichten sandten: darüber, wie sie als Kinder den Sozialismus erlebt hatten. Das war naheliegend. Doch wollten wir auch die anderen hören, von den Eltern und Großeltern. Die aber blieben stumm. Ich weiß noch, wie ich in einer Kleinstadt mit einer älteren Frau ins Gespräch kam und sie fragte, ob sie mir nicht ihre Lebensgeschichte erzählen könne. Sie stutzte, blickte mich an und sagte verlegen, sie habe keine. Im weiteren Verlauf des Gesprächs erfuhr ich dann von ihr, ohne sie zu bedrängen, viele wunderbare Sachen. Als ich darauf hinwies, war sie ganz verdutzt. Die Frage, wie ich sie gestellt hatte, war sie einfach nicht gewohnt. Der Mensch kommt ins Erzählen, sobald jemand da ist, der zuhört. Kein Storytelling ohne Storyhearing.

    Immer mehr Geschichten trudelten bei uns ein, am Ende waren es über fünfhundert. Eine ergab die andere. Den Leuten hatte sich die Zunge gelöst. Und das war das Wichtigste. Das Staunen jener alten Frau – darüber, dass sie eine Geschichte hatte und das Recht, sie zu erzählen.

    Ich erwähne das hier nur, weil ich glaube, dass solche Ansätze auch heute funktionieren könnten, wo es darum geht, Anteilnahme gegenüber Migranten zu entwickeln, denen, die ethnisch, politisch und ökonomisch anderer Herkunft sind. Ihnen zu zeigen, dass wir ein Ohr für ihre Geschichten haben, uns tatsächlich dafür interessieren. Und ihnen genauso von uns zu erzählen.

    In dem Zusammenhang scheint es mir nötig, den Begriff der Toleranz neu zu definieren. Es genügt nicht, einander nur zu dulden und zu ertragen. Zu sagen: ‚Du lebst in deiner Welt, mit deinen Gepflogenheiten, ich werde dich nicht daran hindern und erwarte das Gleiche von dir. Als existierten wir nicht füreinander. Wir gestehen dir Rechte zu, geben dir einen Job, doch sollst du wissen: Du wirst immer fremd bleiben unter uns.‘ So läuft das unter den heutigen Umständen nicht mehr. Wenn wir heute den anderen verstehen wollen, sollten wir seine Lieblingsbücher lesen und seine Geschichten hören. Was wir brauchen, ist eine neue, aktive Art von Toleranz. Eine, die Anteilnahme einschließt. Sie ist, persönlich und politisch, ein Gebot der Stunde.

    Totalitäre und fundamentalistische Ideologien sind von Natur aus unfähig zur Empathie. Für sie ist der andere ein Feind, der menschlichen Natur entzogen. Was aber genauso auf das Eigene zutrifft, alles Menschliche lenkt nur ab, macht schwach, sät Zweifel. Ein Mensch weniger ist ein Problem weniger, hat Stalin zynisch gemeint. Auf Menschlichkeit zu verzichten erspart uns viele Probleme, denken extremistische Ideologen bis heute. Und das ist das Ärgste. Also muss erzählt, Anteilnahme geweckt werden: damit das Menschliche bewahrt bleibt. Darin liegt die Kraft dieser Lebensgeschichten: dass sie zu dem, was den Menschen ausmacht, unmittelbar Bezug haben, vor jeder Ideologie, vor jedem Staat und jeder Nation.

    Heute, da in der Gesellschaft allenfalls ein kippeliger Waffenstillstand herrscht, die Befindlichkeit der Menschen an vielen Orten Europas zwischen Wut und Depression schwankt, ist Empathie, wie Literatur sie erzeugen kann, von lebenswichtiger Bedeutung. In meinem letzten Roman habe ich dafür eine simple Formel eingeführt: „Ich sind“. Ein sinnhafter grammatikalischer Lapsus; in meinem Verständnis der Schlüssel zur Empathie.

    Was kann Literatur noch? Sie ist geschmacksbildend. Das ist nicht zu unterschätzen. Ein Mensch mit Geschmack erliegt billiger Propaganda nicht so leicht. Kitsch, wie Politik ihn erzeugt, weist er zurück. Und das ist bereits ein politischer Akt. Der Dichter Joseph Brodsky bekannte einmal, sein Widerstand gegen die Sowjetmacht sei in erster Linie ästhetischer Natur. Bevor der Verstand das Böse erkennt, nehmen die Sinne, so sie ausreichend sensibilisiert sind, den von ihm ausgehenden Brodem wahr, reagieren mit Abscheu. Auch an der Ausbildung dieser Sinne hat die Literatur ihren Anteil.

    Ein paar Verse von Zbigniew Herbert passen hierher, das Gedicht heißt „Die Macht des Geschmacks“: „Es bedurfte beileibe keines großen charakters / für unser nein die absage den widerstand / wir hatte ja das quentchen unbedingten mutes / doch im grunde war’s eine sache des geschmacks / ja, des geschmacks / der seelenfasern hat und knorpel des gewissens“.

    Und wie hängen Literatur und Widerstand heute zusammen? Am späten Nachmittag des 14. Juni 2013 füllte sich das Zentrum von Sofia urplötzlich mit mehreren Tausend Menschen. Sie kamen von überall her, meist direkt von der Arbeit, spontan, ohne vorbereitete Spruchbänder und Plakate; bewegt von der puren Empörung, dass ein korrupter Medienmogul zum nationalen Sicherheitschef ernannt worden war. Die Nachricht war erst wenige Stunden alt, die Reaktion erfolgte, unter Ausnutzung der sozialen Medien, blitzartig.

    So nahmen die längsten und größten Massendemonstrationen in der Geschichte Bulgariens ihren Anfang. Demonstriert wurde Tag für Tag, meist am Nachmittag, 180 Tage lang, bis zum Ende des Jahres 2013. Und vieles war an diesen Protesten besonders. Zum Beispiel brachten die Leute ihre Kinder mit. Die hatten mitunter eigene Plakate dabei, zumeist auf einem einfachen DIN-A4-Blatt, mit einem originellen Spruch. Ein fünfjähriges Mädchen zum Beispiel verkündete: „Jetzt habt ihr meine Mutter wütend gemacht.“ Wut war zu spüren, aber auch Freude darüber, dass es möglich war, Abend für Abend die Menschen zu mobilisieren, ohne dass eine Partei oder ein Anführer dahinterstanden – im Namen einer gemeinsamen Sache, gegen die diffuse Verschränkung von Mafia und Politik, die allgegenwärtige Drahtzieherei. Ein neues Gemeinschaftsgefühl kam auf.

    Wenige Tage zuvor hatten die Proteste auf dem Taksim-Platz in Istanbul um sich gegriffen. Monate später würde die Revolution einen anderen Platz erfassen, den Maidan in Kiew. Damit verglichen, blieben die bulgarischen Geschehnisse am Rand der Aufmerksamkeit europäischer Medien, was in den wenigen Reportagen aus Sofia auch stets angemerkt wurde. Das hat verschiedene Gründe, aber darum geht es mir hier nicht.

    Bei allen drei genannten Protesten haben Bücher eine Rolle gespielt. Der Akt des Lesens war, seiner Intimität entrissen, zum sinnfälligen Teil der Bewegung geworden. Bilder lesender Demonstranten wurden über die Medien verbreitet. Den Anfang machte am 19. Juni ein sogenannter Lese-Protest auf dem Taksim. Man stand da und las – öffentlich, jedoch still für sich. Man fühlte sich erinnert an die Performance „Standing Man“ des Künstlers Erdem Gunduz. So entstand „The Taksim Square Book Club“. Und was wurde gelesen? Am häufigsten „1984“ von George Orwell, worüber man sich nicht wundern muss. Außerdem Albert Camus’ „Mythos des Sisyphos“, auch dies eine hoch symbolische Lektüre. Daneben aber Bücher, die auf den ersten Blick nichts mit den Ereignissen zu tun hatten – Haruki Murakami oder Gabriel Garcia Marquez’ „Hundert Jahre Einsamkeit“. Auf manchen Bildern waren Titel türkischer Autoren zu erkennen, so zum Beispiel „Diriliş Çanakkale 1915“ von Turgut Özakman, eine Atatürk-Biografie und so weiter.

    Im darauffolgenden Jahr während der „Hong Kong Umbrella Demonstrations“ war das Buch wiederum ein wichtiges Protest-Attribut. „1984“ machte auch hier das Rennen. Außerdem entstand eine kleine mobile Bibliothek, wie es sie, ungleich größer, bei Occupy Wall Street im September 2011 gegeben hatte: „The People’s Library“, mit über 5000 Bänden, welche die Protestierenden selbst eingestellt hatten. Später hat die Polizei sie zerstört, die Bücher „in Haft“ genommen, ein Großteil davon vernichtet.

    Auch der Kiewer Maidan hatte seine Bibliothek – im Ukrainischen Haus. Sie sah ganz gewöhnlich aus, mit ordentlichen Regalen, die Bücher alphabetisch geordnet. Nur dass die Leser nicht registriert wurden, man lieh auf Gutglauben. In der Nacht vom 18. auf den 19. Februar wurde die Bibliothek von Polizeieinheiten gestürmt, welche die Bücher aus den Regalen rissen und darauf herumtrampelten. Auch von diesen Protesten gibt es ein wunderbares Foto: Einer in Handschuhen, Pelzmütze und Gasmaske steht auf dem vergletscherten Platz unter riesigen Eiszapfen und liest. Minotaurus mit Buch. Der aufrecht lesende Mensch.

    Bibliotheken gab es in Sofia zwar keine, aber das Buch war Teil des Protests, man hatte es bei sich, sprach und schrieb ausführlich über das, was man las. Im Internet tauchten Listen mit Büchern auf, die ein Demonstrant gelesen haben sollte. Nicht ganz im Ernst, doch auch nicht ohne Hintergedanken zogen die Protestierenden eine imaginäre Linie zwischen sich und den Machthabern, die besagte: Wir sind Leser, sie sind Analphabeten. Einmal wurde dieser Linie leibhaftige Gestalt gegeben, eine lange Bücherkette längs des Polizeikordons vor dem Parlamentsgebäude aufgestellt. Als Demarkationslinie, die nicht zu überschreiten war. Dazu passend stolzierte einer der obskuren Befürworter der Regierung, der vorbestrafte Nationalist Bisser Petnoto („der Fleck“), mit seiner Gang stiernackiger Typen davor auf und ab und verkündete mit provokantem Stolz, er habe in seinem Leben noch kein Buch angefasst. Kurzum: Wie von selbst geriet das Buch zum Zeichen, zur Parole des Widerstands.

    Am 1. November – in Bulgarien ein Feiertag, der sogenannte Tag der Erwecker – stellten die Studenten sich der martialisch gerüsteten Polizei mit gebastelten Pappschilden entgegen, auf denen die Titelseiten ausgewählter Werke der klassischen und zeitgenössischen bulgarischen Literatur abgebildet waren. Für mich eine der ausdrucksstärksten Aktionen der ganzen Protestzeit: die Schilde der Wehrlosen. Dass just sie an diesem Tag dem Protestzug vorangingen, ihn sozusagen behüteten, verstand sich wie von selbst. Es war ein schöner, sonniger Herbsttag, die Studenten sahen aus wie „Ritter ohne Rüstung“ (In meiner Kindheit hatte es einen Film gegeben, der so hieß.) Von nun an führten sie den Zug tagtäglich mit ihren Buchschilden an. Es war eine Frage der Zeit, bis sie auf wirkliche Schilde, Helme und Knüppel stoßen würden. Das ungeordnete Fußvolk der Lesenden gegen die gut geölte Polizeimaschinerie. Zum Zusammenprall kam es am 12. November. Schild gegen Schild, Pappe gegen Polykarbonat. Helme gegen offene Gesichter. Leser und Gendarm. Das Ergebnis war absehbar. Unter den niedergetrampelten Buchschilden war auch das mit dem Namen des Nationaldichters Christo Botew. „Der Kampf“ heißt eines seiner berühmten Freiheitsgedichte, nun konnte man die Schriftzeile zwischen schweren Polizeistiefeln untergehen sehen. Sollte ich einmal ein Schild nötig haben, ich würde dieses wählen.

    Dass das Buch bei den Protesten eine solch avancierte Rolle spielte, spricht für seinen Charakter. (E-Books waren im Demonstrationszug übrigens kaum zu sehen, auch wenn die meisten unter Garantie eins zu Hause hatten.) Das stumme Lesen auf dem Taksim zitiert gewissermaßen eine Szene aus dem sechsten Buch der „Bekenntnisse“ des heiligen Augustinus, worin der Autor mit Verwunderung beschreibt, wie er seinen Lehrer, den heiligen Ambrosius, einsam in seiner Zelle beim stillen Lesen der Bibel antrifft – „wenn er las, schweiften die Augen über die Seiten und das Herz erforschte den Sinn, er selbst aber schwieg“. Bis dahin war es üblich gewesen, laut und im Chor zu lesen – erst jetzt wurde der Vorgang intim. Und da auch die Demonstrationen von heute in aller Regel lautstark und in der Masse zu agieren pflegen, wird der radikal neue Ansatz der Leseproteste neuerlich offenbar, und wie einst der heilige Augustinus sehen wir mit großen Augen die Demonstranten still in ihr Buch vertieft, jeder für sich und alle beisammen.

    Aber haben diese friedfertigen Proteste der Lesenden denn Erfolg? Mit Blick auf Istanbul und Sofia ließe sich die Frage, oberflächlich gesehen, verneinen. Doch für mich hat sich mit dem Charakter der Demonstrationen auch der Maßstab verändert, an dem Erfolg oder Misserfolg zu messen wären. Proteste wie diese entwickeln die Sensibilität, Geistesgegenwart und Entschlossenheit jedes Einzelnen und der Gemeinschaft. Krisenrezeptoren werden ausgebildet, ein Widerstandsgedächtnis geprägt – bei dieser und der nachfolgenden Generation. Für zarte und verletzliche Zivilgesellschaften wie die unsere kein ganz kleiner Erfolg.

    Ich merke, dass ich einer streng wissenschaftlichen Definition meines Gegenstands bis hierhin ausgewichen bin. Einerseits weil ich denke, dass ohnehin jeder weiß, wie es ist und was es heißt, in den Schuhen eines anderen zu laufen. Andererseits weil mir daran liegt, den Begriff möglichst weit zu fassen, nicht nur als neurologisches, den Spiegelneuronen im Großhirn geschuldetes Phänomen zu sehen, sondern als Kulturtechnik, Metapher auch, und nicht zuletzt als eine Art essenzielles Minimum, ohne das nicht nur das Erzählen, sondern das Leben schlechthin undenkbar wäre.

    Unter den möglichen Definitionen wähle ich eine, die ich von Borges habe. In einem Gedicht, das von Liebe handelt, steht der Satz: „Es schmerzt mich eine Frau am ganzen Körper.“ Das bringt das Phänomen der Empathie auf den Punkt: wenn der andere einem wehtut wie ein Körperteil.

    Aber wer ist dieser andere? Ist von Empathie die Rede, beziehen wir uns automatisch auf den Menschen. (Dabei hat die Wissenschaft das Vorhandensein der Spiegelneuronen an einer Affenart nachgewiesen.) Lässt sich eine nicht anthropozentrische Form von Empathie denken? Mitgefühl mit allem Lebenden und Nichtlebenden, was außerhalb von uns existiert? Darwin spricht im „Ursprung der Arten“ von den Tieren als „brethren in pain“, Brüdern im Schmerz. „Bruder, mein Bruder“, flüstert Nietzsche auf jenem Turiner Platz, wo er dem gequälten Pferd um den Hals fällt, es vor der Peitsche zu schützen sucht.

    Höchste Zeit für environmental empathy! Erinnern wir uns an die Märchen und Geschichten aus Kindertagen, wo sie seit Ewigkeiten praktiziert wird. Mit einer Schnecke zu reden, einem Hund, einem Haselstrauch, sich einzufühlen in sie – nichts leichter, nichts natürlicher als das. Der Mensch sollte für kurze Zeit verstummen und in der eintretenden Stille die Stimme eines anderen Erzählers vernehmen: den Fisch, das Seepferdchen, das Wiesel oder den Bambus, die Katze, die Orchidee oder den Stein … (Hier sei eine evolutionswissenschaftliche Klammer eingefügt. Ein verbreiteter Irrglaube ist, dass Natur und Evolution der Empathie gegenüber intolerant seien, Hilfe und Mitleid gegenüber dem Schwächeren hätten, so heißt es, bei der natürlichen Auslese keinerlei Priorität, Altruismus zöge gegen Egoismus allzeit den Kürzeren. David Wilson, ein namhafter Evolutionsforscher in Darwins Nachfolge, hält dagegen: „Innerhalb von Gruppen setzt sich Egoismus gegen Altruismus durch, doch altruistische Gruppen setzen sich durch gegen egoistische.“

    Dazu fällt mir ein kurzes Gedicht von Laura Gilpin ein: „Das zweiköpfige Kalb“. Ich habe es immer zur Hand, wenn ich ein Beispiel für gute Poesie, für eine gute Geschichte oder für Empathie geben soll, und wie alles drei zusammenhängt:

    „Morgen, wenn die Söhne des Farmers das Monster

    finden, eine Laune der Natur, werden sie den Körper

    in Zeitungspapier wickeln und ins Museum tragen.

    Heute aber ist er am Leben und an seiner Mutter

    Seite, auf der nordwärts gelegenen Weide. Ein

    perfekter Sommerabend: der aufgehende Mond

    über den Bäumen im Garten, der Wind im Gras.

    Und wenn er zum Himmel schaut, sind da

    doppelt so viel Sterne wie sonst.“

    Hier haben wir den Preis der Empathie und zugleich den Lohn dafür: Doppelt mit dem anderen mitzuleiden, doppelt so viel Sterne zu sehen.

    Bücher und Geschichten entziehen uns den Blick, mit dem wir die Dinge zu betrachten gewohnt sind. Die Welt neu sehen, mit den Augen des anderen, um sie fortan auch mit eigenen Augen besser zu sehen.

    Eine Geschichte ist da noch, mit der ich enden möchte. Meine Großmutter, die ihr Dorf zeitlebens nie verließ, beneidete meinen Großvater heftig darum, dass er die halbe Welt gesehen hatte. Auch wenn diese halbe Welt sich auf Serbien und Ungarn beschränkte, wo er im Zweiten Weltkrieg Soldat gewesen war.

    Eine Handvoll ungarische Wörter hat er von der Front mit nach Hause gebracht. Seine Kriegsbeute, gewissermaßen. Eine Art Grundwortschatz: Brot, Wein, Wasser, Danke, schön, auf Wiedersehen. Szervusz, kenyér, bor, víz, köszönöm, sír, ėg veled. Er hütete diesen Schatz wie einen Satz Silberlöffel. Von den Kämpfen erzählte er nie, obwohl ich ihn als Junge deswegen gelöchert habe. Nein, er erzählte von den Leuten, bei denen er einquartiert war, ihrem Grammofon, auf dem ein Trichter thronte, von der Stille in dem fernen Haus, der Musik, die sie dort hörten. Europa war eine Handvoll wohlbehüteter fremder Wörter. Europa war ein Grammofon mit Trichter. Europa war eine Atempause in Kriegszeiten. Europa war die Sehnsucht nach etwas Verlorenem, von dem man nicht wusste, ob man es je besessen hat. Eine unerklärliche Sehnsucht. So ein privates, biografisches Traumeuropa war das. Eines, das er in Ermangelung weiterer Kriege nie wiedersah.

    Aber erzählt hat er davon in einem fort, einen Mythos daraus gemacht – zumindest in meinem Kopf. „Der Mythos ist das Nichts, das alles ist“, heißt es bei Fernando Pessoa. Ich höre auf ihn und meinen Großvater und ende damit, dass es an der Zeit ist, neue Geschichten von Europa zu erzählen oder erzählen zu lassen von denen, die nicht in den Medien auftauchen. Schenken wir dem Europa der Armen Gehör (über 80 Millionen! – so viel wie Deutschland Einwohner hat), dem Europa der Ränder, der Migranten, derer, die widersprechen, und derer, die widerspruchslos bleiben, Sieger und Unterlegene. Es wird schwerer fallen, jemanden zu verletzen, ihm einen Tritt zu geben oder den Rücken zuzudrehen, nachdem er dir erzählt hat von sich, Vater und Mutter, den Kindern. Der Mensch wird zum Menschen, wenn er eine Geschichte hat. Das ist die wahre Metamorphose. Das ist das Wunder der Literatur. Von so einem Europa träume ich. Dem Europa der Empathie.

    Aus dem Bulgarischen von Andreas Tretner. Es handelt sich um Gospodinovs Poetikvorlesung im Rahmen der Siegfried-Unseld-Professur an der Berliner Humboldt-Universität.

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    Author: Susan Black

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